Freitag, 24. Oktober 2014

Education 2.0

In der guten alten Zeit gab es ungefähr einen Erziehungsstil. Die Kinder sollten so viel wie möglich draußen herumlaufen und ihre Eltern nicht nerven. An Unterhaltungsprogramm gab’s Turnstunde, Fußball und/oder Flötenunterricht.
Heutzutage hingegen bricht ja eine Riesenwelle an Ratgebern, Kursen, Online-Elternportalen, Beratungsangeboten usw. über uns herein. Nun ja. Dem Spruch „Uns hat’s auch nicht geschadet“ stehe ich ehrlich gesagt schon ein wenig kritisch gegenüber, wenn man sich die erwachsenen Leute so anschaut (finde ich schon! Denn sonst wäre es um die Welt ja doch ein bisschen besser bestellt, oder?). Andererseits: Muss ein dreimonatiger Säugling echt in einen PEKIP-Kurs, einen Baby-Yoga-Retreat, eine Mama-Kind-Kuschel-Gruppe, frühkindliche Musikerziehung mit Blockflöte, oder kann er nicht einfach seine Milch trinken oder plärren? Kann ich einen vor Koliken wie einen Heißluftballon aufgeblähten Säugling mithilfe eines Bestsellers à la „Jedes Kind kann schlafen lernen“ dazu bringen, mit der nächtlichen Schreierei aufzuhören? Oder doch lieber mit „Windsalbe“ einschmieren oder eine superteure Spezial-Antifurz-Säuglingsmilch kaufen? Also, die gute Nachricht: wenn man den ganzen Mist durch hat, hören die Koliken altersbedingt ohnehin auf.
Der Normalfall ist sowieso: Der Fratz macht nicht das, was ihm von guten Ratgebern empfohlen wird. Aber liebe Eltern, einfach mal konsequent sein! Regeln! Die Einzigen, die gnadenlos konsequent sind, sind allerdings die lieben Kleinen: Sie machen konsequent nicht das, was von ihnen erwünscht wird. Ja, vielleicht werden sie es viele, viele Jahrzehnte später dennoch tun, aber JETZT nicht. Sie werden voraussichtlich bis ins hohe Alter (d.h. bis sie selbst Kinder haben) versuchen, heimlich Joghurtdeckel auf den Boden zu schmeißen statt in die Mülltonne. Und es macht einfach zu viel Spaß, das Geschwisterkind an den Haaren zu ziehen, als artig mit ihm pädagogisch wertvolle Lernspiele durchzuführen. Ja, leider! Denn ganz ehrlich, der ganze Erwachsenenscheiß ist einfach langweilig. Das wissen wir ja selbst, und wir brummen das den Kindern auch nur auf, weil wir es sonst selbst machen müssen. Wenn ich könnte, würde ich die Kinder dazu zwingen, meine Steuererklärung zu machen!
Aber ist das ein Lebensziel? Ich gestehe, dass das fantasto-anarchische Prinzip der Kinder mich fasziniert. Heute bin ich Raubritter! Heute baue ich eine Flugmaschine! Heute mache ich keine Hausaufgaben! Einfach, weil ich keinen Bock habe! Heute weine ich den ganzen Tag! Heute will ich alles mit Sonnencreme beschmieren! Heute laufe ich nackt herum! Heute sage ich zu allen Frauen „Hallo, du alte Oma!“
Selbstkritisch gesagt: Kinder würden wahrscheinlich gar nicht so viel Unsinn machen, wenn die Erwachsenen sie weniger nervten – mach dies, mach das; das auf keinen Fall, NEIN! NEIN! Kinder probieren alles aus, sind voller Einfallsreichtum – vor der keine Wohnzimmerwand verschont bleibt -, vorurteilslos und gutherzig. Hier wird gehandelt, keine Bedenken jongliert! Ja, ich glaube, es wäre um diese Welt wirklich etwas besser bestellt, wenn wir diesem Prinzip mehr Raum geben würden, und ich bin auch ein bisschen besorgt, dass die Kinder dieses im Laufe der Zeit ganz verlieren könnten.
In kleinen Ansätzen hat die Politik mittlerweile begriffen, dass wir Kinder brauchen. Aber wozu? Ja, man hat gemerkt, dass die Gesellschaft sonst zu alt wird, es fehlt der Nachwuchs, der als Beitragszahler neues Geld in die Rentenkassen spült, es fehlen die Fachkräfte, Hilfe (natürlich die jungen, idealerweise männlichen und ungebundenen, superflexiblen Fachkräfte, alte Säcke hamma ja genug)! Kleiner Haken: welche Frau sagt schon: Ja, wenn das so ist, dann zeugen wir jetzt halt einen weiteren Rentenzahler! Einen Superarbeiter für die Industrie, damit die noch mehr Geld scheffeln, prima! Und welcher Politiker sagt schon, wir brauchen Kinder, weil uns Schnarchnasen sowieso nicht Besseres mehr einfällt, als Formular 301646543a* zu erfinden, wir brauchen viel mehr Fantasto-Anarchisten!? Das ist zum Beispiel meine bescheidene Meinung :-).