Samstag, 24. Januar 2015

Das Syndrom



Es gibt ja sehr schüchterne Kinder, die man erst mal anstupsen muss, um festzustellen, ob es sich nicht um eine Schaufensterpuppe handelt. Kinder, die leise von sich hinspielen und die gelegentlich einen Satz flüstern, wenn es gar nicht mehr anders geht. Einfach Kinder, von denen man nicht merkt, dass sie da sind (also ich in meiner Kindheitserinnerung, was von meiner Mutter allerdings merkwürdigerweise in ganz eigenartigem Ton bestritten wird).
Ja, wie dem auch sei, so sind meine Kinder NICHT. Sehr oft bin ich versucht, missbilligenden Fremden gegenüber zu behaupten, sie hätten alle drei schwere ADHS (was für ein Schicksal für die arme, gramgebeugte Mutter!), allerdings muss ich Euch gegenüber zugeben, das stimmt nicht. Versuchen wir mal das Problem irgendwie einzugrenzen. Symptomatik:

  • 1)      Ausgeprägte Neigung zu irrational übersteigerter Lautäußerung.
  • 2)      Extremer haptischer Drang.
  • 3)      Leicht fehlgeleitetes rationales Handlungsvermögen.
  • 4)      Stark ausgeprägte Emotionalität.
  • 5)      Fragwürdige sozioökonomische Kompetenz.

Ein sehr schwerer Fall! Und das noch gepaart mit extremem Kleinwuchs. Da dieses Phänomen in Deutschland relativ selten ist, mussten wir ausländische Experten zu Rate ziehen. Hier konnte das Problem glücklicherweise doch sehr schnell eingegrenzt werden: Es handelt sich um die in Deutschland rare Erscheinungsform des K.I.N.D.-Syndroms (Volkstümlich würde man Punkt 1-5 vielleicht so umschreiben: Schreien wie die Wilden, langen alles an, hören weder auf Tod noch Teufel, heulen die ganze Zeit und sind irgendwie unnütz.)
Entwarnung kann aber gegeben werden: Es ist NICHT ansteckend. Ja, in anderen Ländern geht man sogar sehr offen mit diesem Syndrom um,  ja, so seltsam es klingen mag, in diesen urtümlichen Gefilden gilt es sogar als Segen, wenn, wie bei uns, mehrere Familienmitglieder davon befallen sind.
Erinnerungen: Ich sehe mich in einem fernen fernen Land in Lateinamerika mit meiner Familie in einen Bus steigen. Es ist heiß und es ist voll, und auf seinen Geldbeutel sollte man gut aufpassen, doch das ist machbar. Aber es gibt eine Seite von mir, die endlich mal relaxen kann. Meine Kinder können schreien und toben, sich hauen und Rabatz machen. Gleich kommt der Erste an … und beglückwünscht mich zu diesen wunderbaren Kindern. Wie hübsch und schlau und goldig, und so schöne Augen haben sie auch…  Nein, das ist kein Scherz. In manchen Ländern der Erde ist das tatsächlich so. Nun, da bin ich jetzt gerade nicht.
Wenn alles gut geht, läuft das hierzulande eher so ab: Fahrt mit der geliebten Deutschen Bahn. Selbstverständlich pünktlich (haha, der Witz musste jetzt einfach sein). Selbstverständlich nur 30 Minuten Verspätung, d.h. zusätzlich 3 Euro allein für Toilettenbesuche einplanen (ich gehe doch mal Pipi, damit ich nicht mit in netter Begleitung auf einer handtuchgroßen Toilette im Zug muss, während mir K.I.N.D.-Menschen irgendwelche netten Streiche spielen. Nuss noch jemand – NEIN! NEIN! … 5 Minuten später: Mama ich muss Pipi … Timmy, musst Du auch? Nein… 5 Minuten später…). Und was unten rausläuft, muss auch oben wieder rein, also weitere 6 Euro für Verpflegung. Wir sind gar nicht in Vollbesetzung unterwegs, aber mit zwei, die’s mit der Krankheit K.I.N.D. ganz schwer getroffen hat. Im Zug: Nasenspitzen rümpfen sich, Augenbrauen heben sich, tonnenschweres Schweigen im Walde außenherum. Wobei wir eigentlich ganz manierlich waren, allerdings (die DB ist schuld!) wegen des langen Hin und Her mussten wir am Schluss halt kurz durchdrehen und auf dem Gang aufeinander herumspringen. Bannkreis außenherum. Ansteckungsgefahr wird von unkundigen Passanten anscheinend schwer überschätzt. Ich schnalle mir den Rucksack auf den Rücken, nehme die Reisetasche in die eine Hand, mit der anderen trage ich Felicitas und Timmy … äh, keine Hand mehr übrig. „Halt dich an der Tasche fest.“ Alle rücken leicht angeekelt noch ein Stück zurück. Seufz. Ich springe schwer beladen aus dem ICE und halte Ausschau nach meinem Mann, der uns abholen kommt, aber noch nicht gesichtet hat.
In der U-Bahn setzt sich mein Mann mit Felicitas auf dem Schoß hin und ich stelle mich mit Timmy daneben. Ein Mann, offensichtlich nicht aus Deutschland und damit anscheinend mit dem K.I.N.D.-Thema nicht so auf Kriegsfuß, steht ruckizucki auf und bietet mir seinen Platz an. Ich lehne höflich ab, weil ich mit einem Kind auch prima stehen kann, aber er besteht darauf. Ich freue mich wie ein Schneekönig, dass jemand mal nett zu uns ist.
Der Un-Satz des Jahrzehnts, den ich viel zu oft höre, ist für mich definitiv: „Bitte tun Sie das Kind weg!“ Im Schwimmbad, beim Arzt, im Supermarkt… Frage: Wohin eigentlich? Wohin soll ich es wegtun? Soll ich es jetzt hauen, fesseln, knebeln, ihm irgendwelche Drogen verabreichen? Es erst wieder aus dem Haus lassen, wenn es ein voll ausgebildeter Industrieknecht ist, der die Renten für all die Meckerer bezahlen kann? Gell, das wäre doch zu schön: Deutschlands Traum geht in Erfüllung.

Donnerstag, 1. Januar 2015

Jahresende

Weihnachten.... Fest der Liebe und der Stille. Wunderbare Traditionen, die man gemeinsam mit seinen Lieben im Jahresrhythmus wiederaufleben lässt. Besinnliche Stimmung mit viel Romantik und Kerzenschein, Momente auch der Innerlichkeit und Besinnung.
Da machen wir natürlich nicht mit. Familienharmonie? Bei uns wird gestritten, an den Haaren gezogen, geheult, dass es eine wahre Freude ist! Mein ruhigster Moment waren die vier Stunden im Großraum-Indoorspielplatz, als die Zwerge glückselig unter dreihundert anderen glückseligen schreienden Zwergen abflitzen und erst mal nicht mehr gesehen waren.
Aber ich will heute mal nicht über die Kinder lästern (obwohl die sich wirklich  INFERNALISCH aufgeführt haben). Bei uns Erwachsenen ist es doch so: Zu Jahresende entsteht bei uns die Panik vor dem Schwarzen Loch oder einer geheimnisvollen Verkrümmung des Raum-Zeit-Kontinuums: Zwei Wochen – bzw. gefühlt zwei Jahrhunderte – wird das gesamte Leben stillstehen! NICHTS wird passieren – ja, so schlimm wird es kommen! Und es gibt nur eine einzige Möglichkeit, uns aus dem zerstörerischen Sog des Schwarzen Lochs zu befreien: Komplett durchdrehen! Ausrasten! Shoppen, schmücken, fröhlich sein, bis der Arzt kommt! Wer keinen Blutdruck über 150 und Herzrasen hat, ist ausgeschieden! ALLES muss JETZT geschehen, weil sonst… ja weil sonst … weiß ich auch nicht (wobei zu unserer alljährlich großen Überraschung das Leben nach Dreikönig trotzdem irgendwie weitergeht, und sogar genauso wie voher).
Früher habe ich hoffnungsvoll gesagt, da mache ich nicht mit, aber mittlerweile hat mich die MACHT voll im Griff und ich stürze ich mich willenlos wie die anderen Lemminge in den Aktivitätenthrill. Für Montag, den 22.12., hatte ich zum Beispiel gleich mehrere unglaublich wichtige Termine anberaumt. Damit war auf jeden Fall gewährleistet, dass ich nur unter erheblichem Stress für den Weihnachtsurlaub bei den Eltern packen konnte, der am 23. begann. Zur Einstimmung auf die besinnlichen Weihnachtsfeiertage gibt’s für mich nur ein geeignetes Mittel: den von mir absolut gefürchteten Triple-Kinderzahnarzt-Termin. Der logistische Aufwand ist gigantisch und einer dreht da immer durch, wobei ja zeitgleich alle entspannt und einsichtig sein sollen und ihren Mund öffnen. Diesmal war es Timmy. Nach Abschluss der Prozedur und Abholung der Belohnung sahen seine erfreut glänzenden Äuglein mehrere Rollen Zahnpflege-Kaugummi, die diese Ärzte als Quengel-/Elternberuhigungsware dort zum Kauf ausstellen (ja mei, als Zahnarzt muss man heutzutage auch sehen, wo man bleibt, gell). Timmy snatchte sich spidermanartig eine dieser Rolle und nahm die Beine in die Hand. Ich hinterher. So flitzten wir einige Zeit in mörderischem Tempo im Kreis durch die Praxis (Timmy ist nicht umsonst mein Fitness-Trainer), bis ich aufgab und stattdessen den Godzilla machte, in dessen Pranke der Wunderläufer die Rolle brav hineinlegte. Selbstverständlich standen wir wieder mal im absoluten Mittelpunkt des Geschehens. Totale Fassungslosigkeit allenthalben. Wütend packte ich die Truppe wieder ins Auto und fuhr zornbebend nach Hause. Mit Packen war dann nichts mehr, denn mein Mann war auf einer Weihnachtsfeier und ich damit beschäftigt, einen Pulk aus balgenden schreienden Kinder regelmäßig zu wenden. Gut so, denn das steigert die Vorfreude und den Puls am nächsten Tag!
Außerdem keine Panik, da war ja noch ca. 3,5 Stunden Zeit, bis mein Ältester aus der Schule kam. Mein Mann würde mir helfen und die Kinder hüten. Leider tauchte dieser um 20 Jahre gealtert von seiner Weihnachtsfeier wieder auf – wieder ein sehr anschauliches Phänomen des weihnachtlich flackernden Raum-Zeit-Kontinuums – und erhöhte somit die Zahl der anwesenden betreuungsbedürftigen Personen auf drei. Ich stellte fest, dass ich mittlerweile mit einem Riesenkoffer nicht mehr auskomme, sondern eine weitere Reisetasche dazu brauche – wenn ich die Wettervorhersage, die massenhaft Schnee prognostizierte, ignoriere und keine expliziten Schneeklamotten mitnehme (das wird Tadel von Oma geben). Die zu inspizieren schaffe ich jetzt sowieso nicht mehr! Die Uhr tickt! Schnell noch Verkehrsmeldungen checken! Timmy will ein Vollbad mit grünem Drachenschleim nehmen! Wo ist die verfluchte Reisetasche!Felicitas : Ersatz-Winteranzug ja oder nein? Gibt es ein Medikament, das gegen alle eventuell auftretenden Krankheiten auf einmal hilft? Wenn nein, weg damit! Wo ist eigentlich mein Mann hingelaufen? Sollte der nicht noch mal meckern, dass der Koffer nicht zugeht? Wird Timmy eigentlich nackt mitfahren? Egal. Ich trinke einfach eine sehr, sehr große Tasse Kaffee. Zehn Jahre jünger. YEAH! Los geht’s!