Samstag, 28. Juni 2014

Depressing Germany II: Achtung! Bissige graue Panther entlaufen!

Eigentlich mag ich ja Omas und Opas. Oma und Opa meiner Kinder retten mir zum Beispiel das Leben! Oma kommt in regelmäßigen Abständen angereist, und wienert und putzt mit einer Energie, die sie vermutlich ins Guinness-Buch der Rekorde katapultieren würde. Das Bootcamp-Intensiv-Outdoortraining meines Vaters mit anschließendem Petterson-und-Findus-Powerlesen bringt die Zwerge immerhin ca. 13,5 Minuten früher zum Schlafen. Mein Ältester findet nichts schöner, als seine gesamten Schulferien bei Oma und Opa zu verbringen, die ihm liebevoll jeden Wunsch von den Augen ablesen, so dass er uns stets verkündet, er würde für immer bei Oma und Opa bleiben und auch nie mehr in die Schule gehen…
Aber jetzt geht es mal um ein anderes Thema: Ist es Euch eigentlich schon mal aufgefallen, dass kaum jemand das schlechte Benehmen so einiger SeniorInnen zu tadeln wagt? Schon gar nicht öffentlich? Und warum eigentlich nicht? Zum Thema Benehmen und die Erziehung von Kindern gibt ja jeder gern mal seinen Senf dazu, eine Tornadowalze an gefragten und ungefragten Ratgebern rollt über die lieben Eltern hinweg: Warum weint das Kind? Hat es zu wenig/zu viel an, ist es müde, bekommt es viel/zu wenig Essen, zu viel/zu wenig Regeln etc. Aber was ist mit den garstigen Omas und Opas? Dürfen die sich eigentlich aufführen, wie sie wollen? Gibt es ab 70+ einen Freifahrtschein, friedliche Menschen anzufallen?
Typisches Beispiel: Wir sind an einem See mit etwas Publikumsaufkommen. Die Kinder schauen sich am Ufer Enten an. Timmy wirft kleine Stöckchen ins Wasser, Felicitas ist entzückt. Alles easy. Eine Seniorin postiert sich hilfspolizistenmäßig daneben und beginnt bitterböse vor sich hin zu schimpfen, als ein Stock einen Meter neben einer (sich mittlerweile in psychologischer Betreuung befindlichen) Ente ins Wasser fällt. „Haben Sie ein Problem?“, frage ich sie. Wildes Gezeter über meine missratene Brut und mangelnde Erziehung. Ich wünsche mir jetzt mein T-Shirt mit dem Aufdruck: Achtung, ich haue auch böse Omas. Oder schlimmer noch: Die Alte soll sich mal einen Tag lang um meine Kinder kümmern!
Oder neulich auf dem Parkplatz eines großen Möbelgeschäfts: Ein Auto fährt weg und wir parken ein. Ein anderes Auto ungefähr 100 Meter vorn schaltet daraufhin plötzlich den Rückwärtsgang ein und hupt wie verrückt. Angesichts der Fülle an leeren Parkplätzen denken wir uns nichts dabei. Wir laden die Kinder aus und laufen weiter in Richtung Eingang. Plötzlich fällt von hinten eine Alte über uns her, die aus dem anderen Auto. Wie unverschämt wir seien, so eine Frechheit, ihr den Parkplatz wegzunehmen, was für eine Gemeinheit. - Äh Entschuldigung, was ist los, Sie stehen doch schon auf einem Parkplatz (fünf Meter weiter)??? - Seien Sie leise, ziehen Sie Leine, hören Sie auf, zetert es immer weiter. … Ich muss schauen, dass mir die Kinder nicht vor ein Auto laufen und kann mich leider nicht mehr mit ihr beschäftigen. Zeter, zeter, zeter aus dem Off.
Der Klassiker schlichthin ist allerdings: Kind läuft auf dem Gehweg oder fährt friedlich im menschenleeren Wald auf dem Fahrrad vor sich hin, ein RR (rüstiger Rentner) in windschnittigem Radel-Extrem-Outfit kommt urplötzlich mit gefühlten 100 km/h von hinten, natürlich ohne zu klingeln, angebrettert, und flippt total aus, weil das Kind hinten keine Augen hat und ihm demnach auch nicht devot ausweicht. Rücksicht? Benehmen? Moment mal!
Herumkrakeelende und Bierflaschen/Alcopops schwingende Youngsters, „auf der Wiese herumliechende Necher“ (den Spruch habe ich neulich bei einer RR aufgeschnappt), gestresste Möbelpacker, denen wir im Weg stehen, sie alle lächeln uns freundlich zu - die einzige echte Gefahrenquelle sind die RRs, also was bitte ist hier los???
Wir sehen uns wieder mal in anderen Ländern um. Leider muss ich sagen, dass die fortschrittlichen skandinavischen Länder hier nicht wirklich Punkte sammeln können. Da man in Finnland zum Beispiel mit Fremden nur im absoluten Notfall spricht, braucht man sich mit Gemecker immerhin nicht groß herumzuschlagen. Lautstärken oberhalb des Flüstertons sind allerdings nur nach Genuss eines Liters „Finlandia“-Wodka extrastark tolerabel. Die diskreten Gesten im Hintergrund (ohne dass die Eltern es sehen sollen, haha), wird die landesweite Flüsterpost durch mittelmäßiges Herumplärren von Kindern gestört, sprechen allerdings für sich: Ohren-Zuhalten oder schlichtes Hals-Umdrehen. Ich weiß, dass meine finnische Mutter mir jetzt umgehend sehr streng zuflüstern würde, das stimme doch überhaupt nicht . Also, alles reine Fantasie meinerseits!
Der lateinamerikanische Senior an sich erfreut hingegen doch durch Wohlverhalten. Wir wissen durchaus: Die sind auch nicht von schlechten Eltern – im Haus der Großtante meines Mannes hängt immer noch eine Peitsche mit starken Verschleißspuren an der Wand, zur Warnung an ihre acht mittlerweile längst erwachsenen Kinder. Doch anscheinend hat man sich so im Laufe seines Lebens bereits abreagiert und begnügt sich jetzt damit, milde im Innenhof des Hauses zu thronen. Zwar gibt es da ab 95+ auch ein paar Aussetzer, aber eher so, dass die 97-jährige Tante Soundso, kurz nachdem ich die Zimmertür abgeschlossen und mich hingelegt habe, plötzlich im Zimmer epiphaniert (sie hat die Terrassentür durch geschickte Manipulation geöffnet und ist hineingestiegen), mich aufweckt und fragt, ob ich jetzt nichts essen will. Allgemein klappt’s zwischen den Generationen erstaunlich gut. Ein 20-jähriger Deutscher würde zum Beispiel sich denken: „Ich muss meinen 50-jährigen Onkel herumfahren, ich häng mich besser gleich auf!“ Ein 20-jähriger Latino: „Ich darf mit meinem 50-jährigen Onkel herumfahren! Yeah!!“
Daran müssen wir wohl hierzulande noch ein wenig arbeiten. Aber eine RR hat immerhin das geschafft, was ich nicht für möglich gehalten habe: Manchmal muss ich doch mit Kindern einkaufen gehen, was ich im Allgemeinen zu vermeiden versuche (Es geht interessanterweise nicht darum, dass einer auf dem Boden läge und schreiend nach Süßigkeiten verlangte. Nein, neben mir rauscht dann beispielsweise ein Tornado vorbei, der aus einem wie ein Ventilator rotierenden Timmy besteht, der jede einzelne Ware abküsst (warum?), Mario, der ihn ständig von hinten packt, um ihn daran zu hindern (Kreisch! Prügel! Kreisch), und Felicitas, die vor Vergnügen quiekt und einen Schuh schwingt; ich merke, wir teilen die Menge der Einkäufer wie Moses das Rote Meer, alle weichen panisch zurück.) Im Normalfall sieht das an der Kasse dann so aus: Der Kinderwagen, der zum Transport von Kindern und Lebensmitteln dient, ist berstend voll, meine Tochter bricht gerade aus, mein Sohn Nummer eins schwärmt aus und sammelt sie ein, Sohn 2 ist irgendwo verschwunden, aber wahrscheinlich lokalisierbar. Ich habe die Milch vergessen und hoffe, dass 1 oder 2 rechtzeitig erscheinen, um sie nochmal loszuschicken. Felicitas, frisch eingefangen, lässt die Sirene ertönen und versucht, das Dach des Kinderwagens zu erklimmen, ich muss sie festhalten, gleichzeitig den Wagen weiterschieben, die Waren mit der anderen Hand aus dem Kinderwagenkorb fischen und aufs Band legen. Sieht meist recht lustig aus, wie mein Hinterteil nach oben zeigt mit Felicitas als gewundener Schlange außenherum, während oben ein Glas saurer Gurken zappelt. In diesem Moment kommt garantiert irgendeine Person, die zu meinem Hinterteil sagt: „Oh, ich hab’s so eilig, lassen Sie mich bitte vor!“ Meine Höflichkeit verbietet es mir meist, dies abzulehnen, und so stöhne ich von unten herauf: „Grmpf!“. Aber neulich an der Kasse war ich noch gar nicht mal so im Stress, Timmy hatte seine extrem brave Phase, nur Felicitas heulte und ich stapelte Kartons und Lebensmittel von einer Hand in die andere und vom Boden wieder auf, da ließ mich eine RR vor. Wie nett ist das denn! Ist mir ja noch nie passiert! Danke, Oma! Und ansonsten ein bisschen weniger Gemecker, dann haben wir Euch auch alle wieder lieb!