Freitag, 25. Juli 2014

Urschrei-Therapie



Also, es gibt ja diese Momente, in denen man sich fragt, warum? Was habe ich verbrochen? Warum tut sich nicht einfach die Erde auf und ich versinke – und das ALLEIN. Wenn ich zum Beispiel wie heute mit allen drei Kindern zum Impfen muss, kann ich mich grundsätzlich zwischen Pest und Cholera entscheiden: Entweder ich tue es mir an, mit allen dreien gleichzeitig hinzugehen, oder ich splitte die Gruppe, muss aber dafür den ganzen Spaß zweimal mitmachen. Ich muss sagen, heute habe ich Pest UND Cholera gewählt, da ich es nicht lassen konnte, ein Triple zu wagen. Der Zeitplan ist ein wenig knapp, daher die Premiere: Wir fahren mit dem Fahrrad hin! Also Felicitas mit mir im Kindersitz hinten, die Jungs auf ihrem eigenen Fahrrad. Soweit, so schön der Plan. Als ich schwitzend versuche, die mikado-mäßig ineinander verhakten Fahrräder der Jungs aufzusperren und dann noch mein eigenes Fahrrad aus dem Fahrradkeller heraufschleppen muss, kommen mir erste Zweifel. Ich blöke Mario an, dass er gefälligst absteigen soll und auf Felicitas aufpassen, während ich mich in den unterirdischen Gedärmen des Hauses zu schaffen mache. Mario: keine Reaktion. HALLO?! HÖRST DU??? Ich pfeffere in einer infantilen Trotzreaktion (von wem hab ich das bloss?) das Fahrradschloss auf den Boden. Plastik vom Fahrradschloss bricht. Der im vorigen Moment noch völlig taub und unbeteiligt wirkende Mario kommentiert wie aus der Pistole geschossen: „Du hast das Schloss kaputtgemacht!“ Ja, danke für den Hinweis. „Nein, das geht noch“, behaupte ich selbstbewusst.
Die Fahrt klappt ganz prima. Alle hören auf meine Hinweise: „Kein Wettrennen, nicht gegen Menschen und Autos fahren!“ Im Wartezimmer lese ich ca. drei Minuten in der GALA, von Menschen, die Zeit haben, sich schicke Abendroben anzuziehen und sich dreimal die Woche die Fingernägel machen lassen oder einfach den ganzen Tag Fußball spielen. Toll! Der Kinderarzt hat leider eine akustisch etwas unglückliche Kombination von äußerst hellhörigem Laminatboden und eierschachtelgroßen Plastiklegosteinen gewählt, die von meinen Söhnen zu gigantischen einstürzenden Neubauten aufgestellt werden. Ein Mutter mit einem sehr leisen Mädchen sieht mich böse an. JAJA! ICH WEISS! ICH LASSE IHNEN AM BESTEN GLEICH EINE GROSSE PULLE RITALIN VERSCHREIBEN!
Den Kinderarzt hasst Felicitas, und da sie eh schon schreit, lasse ich sie zuerst picksen. Mario ist es egal. Mannhaft erträgt er den unglaublichen Schmerz. Timmy will nicht. „Dann weine ich.“ „Macht nichts, dann weinst Du halt ein bisschen.“ Ein bisschen? Eine Feuerwehrsirene ist sanfte Meditationsmusik gegen das infernalische Höllengeschrei, das nun nach dem Picks losbricht. Timmy brüllt. Ich trage ihn aus dem Sprechzimmer. AAAAAHHHH!!!!! AUAHHHHH!!!! AAAAHHHH! BRRRR! HEULLLL!!! Rotz und Tränen quellen in breiten Strömen auf sein T-Shirt und seine Hose. Ich trage Timmy auch noch aus dem Wartezimmer, aber Timmy rennt zurück und weigert sich die Praxis zu verlassen. HEEUUULLLL! Also, ich kann einen 18 Kilo schweren Fünfjährigen einige Meter weit tragen, aber ganz sicher nicht bis nach Hause. Timmy heult so laut, dass das gesamte Gebäude in seinen Grundfesten erbebt. „Timmy, möchtest Du kommen?“, frage ich geheuchelt sanft (Gedanke: Verdammt! Das dauert doch jetzt Stunden, bis der sich beruhigt!). „HEUUUULLLL!“ „Timmy, wenn Du nicht kommst, nimmt Dich der Doktor mit nach Hause!“ „AAAAAHHHHHH!!!!! SCHREIIII!!!!“ Ich beschließe, das Wartezimmer zu verlassen, vielleicht kommt er dann. Mario weigert sich, seinen Bruder allein zu lassen und hätschelt an ihm herum. „SCHREEEIIII!!!!! AAAUAH!!!!“ Mario kommt zurück. „Timmy will nicht.“ Ach was? Welche Überraschung! Also, Leute, das ist ein klassischer Trotzanfall. Hier heißt es Ruhe bewahren und abwarten. GRRRR! Ich lächle mit gefletschten Zähnen und blättere pro forma in einer Kinderzeitschrift. Ich warte. Und warte. Und warte. Die Sprechstundenhilfe, die mich immer, wenn ich komme, so mitfühlend freundlich anlächelt, geht rein und fragt Timmy, ob sie ihn nach Hause mitnehmen soll. „JAAAAUUUL!!! HEUUUULLLL!!!!“ Anscheinend nicht. Mein holder Gemahl ruft an, dass er gleich nach Hause komme. „Sehr schön. Auf Wiedersehen“, raunze ich. „Timmy, willst Du hierbleiben und warten, dass Dich Papa abholt?“ „AAAAAH! SCHREIIII!“ Auch nicht, ok. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist Timmy endlich bereit, die Praxis zu verlassen.
Draußen erfahre ich, was der Preis dafür ist: „Du musst mir Würstchen kaufen.“ „Ja gut.“ „Drei Stück.“ „Nein zwei.“ „Drei.“ Timmy ist als Verhandlungspartner ein harter Knochen. Entweder ist er so charmant, dass man ihm alles geben will, weil er so lieb ist, oder so dermaßen garstig, dass man alles tun wird, nur damit er die Klappe hält. Ich sage trotzdem „zwei“. „HEUUULLLL!“ „Geht mal auf den Spielplatz!“ Ich lasse die Jungs einige furchterregende Stunts vollführen, damit sie sich abreagieren (zur Not ist ja der Doktor nicht weit, gell). Und den Weg zum Würstchenstand wird er schon finden! Ich muss nur noch drei Fahrräder aufsperren, was wegen des ramponierten Fahrradschlosses etwas erschwert ist (was ich aber nicht erwähne), ein Kind in den Sitz setzen, die anderen beiden ermahnen und los geht’s.
Nach fünf Minuten Fahrt alles wieder in die umgekehrte Richtung, da wir ja Würstchen kaufen müssen. Timmy latscht mit Turnschuhen im Brunnen vor dem Einkaufszentrum herum – SAPP! SAPP! SAPP!. „TIMMY!!!! Komm da raus!“ Felicitas schreit begeistert: „Auch baden! Auch baden!“ Ich weise Mario an, sie festzuhalten, bevor sie sich sämtliche Kleider vom Leib reißen kann, während ich die blöden Fahrräder absperre. Glücklicherweise ist die Gute noch in einem Alter, in dem man sie problemlos packen und abtransportieren kann. Während ich die Würstchen im Einkaufszentrum kaufe, rennt sie natürlich auf und davon zur Rolltreppe. Zum Glück habe ich Mario, der sie kurz davor abfängt. Ich sammle meinen Geldbeutel, der während dieser ganzen Vorstellung auf den Boden gefallen ist, wieder ein. So! Ab nach Hause! Ich sperre die Fahrräder wieder auf…. Wir radeln heim… Und zwei Minuten später sperre ich die Räder wieder ab….
Timmy frisst natürlich doch drei Würstchen. Sein Bruder, der sich die ganze Zeit gut benommen hat, ist der Gelackmeierte, dem ein Würstchen fehlt. Was soll ich sagen? „Das Leben gibt Dir eine Zitrone? Mach Limonade draus! Das Leben gibt Dir kein Würstchen? Nimm den leeren Würstchenbeutel und falte Dir einen Nintendo draus!“
Darüber muss ich jetzt noch mal nachdenken! Und zwar ALLEIN!