Donnerstag, 10. Juli 2014

Gesprächskultur

Als Mutter ist frau ja leider in Punkto Gesprächskultur ein bisschen verwildert. Der Klassiker ist: Man redet mit einer anderen Mutter, die eine rennt plötzlich mitten im Satz davon, da irgendeins der Kinder wieder mal am Horizont verschwunden ist/ein Selbstmordattentat verübt/in die Steckdose langt/prügelnd auf seinem Geschwisterkind liegt etc. pp. Oder eins der garstigen Blagen steht plötzlich 2 cm vor meinem Gesicht und schreit: „Kann ich jetzt ENDLICH Nintendo spielen?“, während ich gemütlich meinen Kaffee schlürfe. ÄÄÄRGH!
Eigentlich bin ich in Punkto Gesprächskultur eher skandinavisch geprägt. Also: Wir reden leise. Wir lassen alle ausreden. Wir stieren uns nicht dauernd in die Augen. Eine politische Diskussion im finnischen Fernsehen anzusehen, ist ein absoluter Genuss. Kein niveauloses Unterbrechen, keine Beleidigungen, Herumgrabschen oder gar Herumpöbeln, wie man es unter qualvollstem Fremdschämen bei deutschen Politikern immer beobachten muss!!! Nein! Alle sitzen artig im Kreis und reden nacheinander (!) und hören einander zu (!). Exotik pur, gell?
In Lateinamerika kann man mit sowas natürlich nicht ankommen. Für eine Erzählung braucht man eine Theaterbühne und entsprechende Akustik! Jeder brüllt, dass sich die Balken biegen. Spreche ich in einer „normalen“ Lautstärke, registriert kein Mensch, dass ich überhaupt etwas gesagt habe. Hier muss man den Regler einfach ein bisschen mehr aufdrehen – und das sollte man auch tun, denn sonst riskiert man, dass Onkel R. angesichts der drohenden Gesprächspause mit der anscheinend stummen Deutschen einen mehrstündigen Vortrag über Deutschland im Allgemeinen, deutsche Geschichte etc. pp. hält. Das muss unbedingt vermieden werden!!!
Es ist normal, dass der Nachbar um 4 Uhr früh seine Musik so weit aufdreht, dass man senkrecht im Bett steht und denkt, jedes Haar falle einem einzeln aus. „Sag mal, was ist mir Eurem Nachbarn eigentlich los? Ich dachte, die Musikanlage stände direkt neben mir.“ – „Nachbar? Nein, das ist der von der anderen Straßenseite!“ Weitere Problematisierungen der Lautstärke (Meckern, Polizei rufen etc.) finden im Allgemeinen nicht statt.
Manche wissen ja, dass ich eingefleischte (haha) Vegetarierin bin. Dort bekam ich allerdings doch ziemlich Appetit auf Hühnersuppe, als die Hähne um drei Uhr morgens zu krähen begannen.
Dem in Europa so beliebten „Endlich mal Zeit für sich!“ steht man dort übrigens mit großem Entsetzen gegenüber. Nein, droht das unvorstellbare Elend am Horizont, „Zeit für sich zu haben“ und weniger als fünf Personen in ständiger Sicht- und vor allem Hörweite um sich zu scharen, leuchten sofort alle Alarmknöpfe dunkelrot auf und zur Not werden per Hilferuf Ersatz-Verwandte herbeigeordert. Ich war während meiner 4-6-wöchigen Aufenthalte dort auch noch nie (!) allein. UM GOTTES WILLEN! Wir wollen ja den Teufel nicht an die Wand malen!
In Deutschland ist das natürlich differenzierter. Kinderlärm, Musik, allgemein menschliche Lebensäußerungen werden als größte Belästigung betrachtet, während Straßenlärm, Motorengeräusche, Laubbläser, bei denen ein ganzes Stadtviertel unter akustischen Flammen steht, Superduper-getunte Rasenmäher ab sieben Uhr morgens als höhere Gewalt erstaunlich klaglos akzeptiert werden.
Allerdings: Nach sieben Jahren Schlafentzug ist mir das egal. Schaltet Eure Laubbläser oder Kreissägen auf höchste Männerstufe, ich kann trotzdem schlafen! Nach sieben Jahren Kindererziehung habe ich meine Stimme auf ein mächtiges Volumen trainiert, dass ich bei jeder lateinamerikanischen Grundsatzdiskussion die Flagge hochhalten kann. Und ich werde es bestimmt auch bald schaffen, so geduldig und langmütig zu werden wie eine finnische Fernsehmoderatorin. HERRSCHAFTZEITEN, ICH HABE ES TAUSEND MAL GESAGT, ES GIBT KEINEN NINTENDO! BASTA, VERFLUCHT NOCH MAL!